Stuttgart, 26. November 2020 – Der Gründungsprozess der Pflegekammer Baden-Württemberg ist gestoppt. Angesichts der nicht vorhandenen Unterstützung der Landesregierung und des Landtags hat Sozialminister Lucha dem Druck der Kammerkritiker*Innen nachgegeben. Das bereits angelaufene Gesetzgebungsverfahren für eine Landespflegekammer in dieser Legislaturperiode, die im Frühjahr 2021 endet, wird auf Eis gelegt.
Rückblick: 2014 bis September 2020
Nach einer 2014 erfolgten Online-Petition „Ja zur Pflegekammer in Baden-Württemberg“ des Landespflegerats BW mit über 17.000 Unterschriften, Gesprächsrunden mit dem baden-württembergischen Sozialministerium und einer Empfehlung der Enquetekommission zur wissenschaftlichen Befragung der Pflegenden, war es 2018 soweit: In einer repräsentativen Umfrage wurden die professionell Pflegenden zum Wunsch nach einer Landespflegekammer in Baden-Württemberg befragt.
Am 24. Juli 2018 wurde der Abschlussbericht der Befragung durch Staatsekretärin Bärbl Mielich vorgestellt. Das Ergebnis war eindeutig: 68 Prozent der Fachkräfte in Baden-Württemberg stimmten im vollen Bewusstsein der Auswirkungen für die Landespflegekammer. Lediglich 26 Prozent der Befragten stimmten gegen das Vorhaben, sechs Prozent blieben neutral und beantworteten die Frage nicht. Nach Angaben des baden-württembergischen Sozialministeriums wurden insgesamt knapp 2700 Fragebögen ausgewertet.
Als Reaktion auf die Befragung sicherte das Ministerium für Soziales und Integration zu, dem Wunsch der Pflegekräfte Rechnung zu tragen und die Voraussetzungen für die Einrichtung einer Pflegekammer zu schaffen.
Zunächst sollte die Landespflegekammer im Heilberufe-Kammergesetz verankert werden und gesetzlich gleichgestellt werden mit bereits bestehenden Kammern des Gesundheitswesens (u.a. Ärzte- oder Apothekenkammer). Der Referentenentwurf zur Novellierung des Heilberufe-Kammergesetzes sollte nach der Sommerpause 2020 erneut im Kabinett beraten werden. Aufgrund von geäußerten Bedenken durch KammerkritikerInnen und der aktuellen Covid-19 Pandemie wurde die Kommentierungsfrist von Mai 2020 auf Herbst 2020 ausgeweitet.
Dadurch verzögerte sich die Bildung des Gründungsausschusses. Diese war zunächst für den 01. Oktober 2020 geplant. Als neuer Termin war nun der 01. April 2021 vorgesehen. Die Errichtung der Landespflegekammer, die ursprünglich für den 01. Oktober 2021 angekündigt wurde, verschob sich auf April 2023.
Im September 2020 folgte dann der Schock für die BefürworterInnen der Kammer: Der Gründungsprozess der Pflegekammer Baden-Württemberg ist gestoppt. Das bereits angelaufene Gesetzgebungsverfahren für eine Landespflegekammer in dieser Legislaturperiode, die im Frühjahr 2021 endet, wird auf Eis gelegt. Wie es nach der Landtagswahl in Baden-Württemberg im März 2021 weitergeht, ist unklar.
Ziele der Kammer
Das oberste Ziel der Pflegekammer ist es, professionell Pflegenden die Selbstbestimmung zu ermöglichen. Ziele und Aufgaben der Pflege sollen durch die Berufsgruppe selbst definiert werden.
Alle professionell Pflegenden, die nach Altenpflege- bzw. Gesundheits- und Krankenpflegegesetz einen Berufsabschluss erworben haben und ihren Beruf ausüben möchten, sind mit Einführung einer Pflegekammer verpflichtet, dort Mitglied zu werden. Pflegekammern ersetzen weder Tarifparteien noch Berufsverbände.
Ferner ist die Pflegekammer für die Sicherstellung einer sachgerechten professionellen pflegerischen Versorgung der Bürgerinnen und Bürger entsprechend aktueller pflegewissenschaftlicher Erkenntnisse verantwortlich. Die Pflegekammer hat die Aufgabe, die beruflichen Belange der Pflegekräfte zu fördern. Sie soll der Pflege eine starke Stimme geben und sie mit anderen Akteuren des Gesundheitswesens gleichstellen.
Aufgaben der Kammer
Berufskammern sind Körperschaften des öffentlichen Rechts, die die Interessen der Gesellschaft bzw. der Bevölkerung zu deren Wohl stellvertretend für den Staat wahrnehmen. Die einzelnen Aufgaben im Überblick:
Formulierung und Überprüfung beruflicher Richtlinien für professionell Pflegende
Abnahme der Abschlussprüfungen
Verankerung und Durchsetzung einer einheitlichen Berufsethik und Berufsordnung
Regelung der Fort- und Weiterbildung: Eine Pflegekammer achtet auf verpflichtende Fort- und Weiterbildung und überprüft dies
Registrierung der professionell Pflegenden und ihrer Qualifikationen
Regelung der Gutachtertätigkeit und Benennung von Sachverständigen
Schiedsstellentätigkeit zur Beilegung von Streitigkeiten, die sich aus der Berufsausübung zwischen den Mitgliedern oder diesen und Dritten ergeben
Einbindung pflegerischer Fachkompetenz in gesundheits- und pflegepolitische Entscheidungsprozesse
Kooperation und Kontaktpflege mit Institutionen im Gesundheitsdienst
Die Pflegekammer ist nicht zuständig für Tarifverhandlungen und bietet keine eigene Altersvorsorge.
Warum JA zur Pflegekammer? Fünf gute Gründe!
(1) Die Kammer ist ein Machtinstrument!
Eine Pflegekammer bedeutet vor allem sich Gehör zu verschaffen. Bundesweit gibt es nach aktuellen Schätzungen rund 1,1 Millionen Beschäftigte in der Pflege. In Baden- Württemberg sind es etwa 100.000 examinierte Pflegekräfte. Jährlich steht dem deutschen Gesundheitswesen rund 300 Millionen Euro zur Verfügung. Jedoch: Wer bekommt die Finanzspritzen? Die, denen zugehört wird: den Lobbyisten, der Ärzte- und der Apothekenkammer oder auch der Pharmaindustrie.
Darum: Wir Pflegenden brauchen eine starke, einheitliche Stimme. Wir sind die größte Berufsgruppe im Gesundheitswesen. Es wird Zeit, dass wir endlich eine berufsständische Interessenvertretung eigenverantwortlich auf die Beine stellen.
(2) Wir wollen selbst über die Pflege bestimmen!
Wir fragen uns wie es sein kann, dass die Pflege zugunsten von z.B. Ärztestellen in den vergangenen Jahren immer mehr Boden verloren hat? Über unsere Berufsgruppe bestimmen andere: Kassen, Ärzte und Verwaltungen. Selbst die Ausbildung und das Examen unseres Pflegenachwuchses liegt nicht in der Verantwortung professionell Pflegender, sondern wird über das Regierungspräsidium geregelt. Bei anderen Berufen undenkbar! Eine Selbstverwaltung der Pflege ist für uns die einzige Lösung.
(3) Wir wollen: Gestalten statt verwalten!
Wer, wenn nicht die Pflegenden selbst, kann für alle verbindlichen Grundsätze und Regeln erarbeiten und überwachen? Zum Beispiel ein einheitliches pflege-ethisches Verständnis? Es ist an der Zeit eigene Qualitätsstandards zu prägen und so klarzustellen, was uns wichtig ist.
(4) Die Pflege braucht mehr Selbstbewusstsein!
Pflegende sind eine eigene Profession, eine eigene Berufsgruppe. Wir sind vieles – mit Sicherheit aber nicht die Gehilfen der Ärzte! Pflegekräfte stehen auf gleicher Augenhöhe mit anderen Berufsgruppe, haben eine anspruchsvolle Ausbildung und ihre eigenen wissenschaftlich fundierten Erkenntnisse. Eine selbstbewusste, starke Pflege wirkt auch nach außen hin attraktiv – u.a. für den Nachwuchs.
(5) Zwangsorganisation? Nein!
Wir sagen: Die Pflegekammer schafft Transparenz – für uns als Berufsgruppe, für Arbeitgeber und die Bevölkerung. Die Pflegekammer ist aus unserer Sicht das gemeinsame Dach, unter dem sich alle Pflegekräfte versammeln. Das Gerüst, das uns verbindet und zusammenhält. Ja, es besteht die Pflicht zur Mitgliedschaft. Jedoch: Nur so werden wir endlich klare, verbindliche Zahlen haben. Heute ist es nur möglich die Anzahl der beruflich Pflegenden zu schätzen. Eine verbindliche Datenlage, wie sie durch die Pflegekammer entsteht, bietet Transparenz. Und Transparenz schafft Argumentationshilfen.
Die Pflegekammer kontrolliert Examensurkunden, hat Einblick in erfolgte Fort- und Weiterbildungen und erfasst diese Daten in einem Berufsregister. Für Arbeitgeber und Pflegempfänger wird künftig zentral geprüft, dass alle professionell Pflegenden die benötigten Qualifikationen haben. Das schafft Sicherheit und Vertrauen.
Pflegende übernehmen Verantwortung – das beweist die Berufsgruppe täglich. Die Pflegekammer ist das Instrument, das die Verantwortung für unsere beruflichen Belange in die Hände von uns Pflegenden legt – weil wir es können. Darum: JA zur Pflegekammer.
FAQ
(1) Welche Aufgaben nimmt eine Pflegekammer wahr?
Bündelung der berufsständischen Interessen der Pflege, z. B. als Ansprechpartner für die Politik, durch fachliche Mitwirkung bei Gesetzgebungsverfahren oder durch Öffentlichkeitsarbeit
Erlass einer Berufsordnung
Empfehlungen zur Qualitätsentwicklung und -sicherung pflegerischer Berufsausübung
Führen eines Berufsregisters aller Pflegefachkräfte
Einsatz von Gutachten und Sachverständigen, z.B. in Schiedsstellen
Anwendung der bundeseinheitlichen Regelungen zur Berufszulassung, z. B. Abnahme von Prüfungen und Aushändigung der Berufsurkunde, Anerkennung ausländischer Berufsabschlüsse
Regelungen über Fort- und Weiterbildung
Beratung für Berufsangehörige bei juristischen, ethischen, fachlichen und berufspolitischen Fragen
(2) Was macht eine Pflegekammer nicht?
Kammern vertreten keine fachlich motivierten, verbandspolitischen Aufgaben
Sie haben keine Tarifautonomie, d.h. sie können nicht die Aufgaben der Gewerkschaften übernehmen
Es ist nicht vorgesehen, dass die Pflegekammer zukünftig die Altersversorgung der beruflich Pflegenden aufbaut
Die Pflegekammer übernimmt nicht die Aufgabe des MDK – sie verhandelt keine Gebührenordnungen