OP Schwester Susanne Serry im Kriseneinsatz bei einer Operation in Nigeria

„Man fühlt sich nicht heldenhaft, für mich ist das selbstverständlich.“

Seit über zwei Jahrzehnten engagiert sich Susanne Serry als Pflegefachperson in der internationalen humanitären Hilfe. Die diplomierte Operationsschwester aus Ludwigsburg war für das Internationale Komitee vom Roten Kreuz (ICRC) in zahlreichen Krisen- und Konfliktregionen weltweit im Einsatz – von Sri Lanka nach dem verheerenden Tsunami 2004 über Haiti nach dem Erdbeben 2010 bis hin zu langjährigen Missionen im Nahen und Mittleren Osten, in vielen Ländern Afrikas und zuletzt mehrfach im Gazastreifen.

Für ihr außergewöhnliches Engagement wurde sie 2023 mit der Florence-Nightingale-Medaille ausgezeichnet. Darüber hinaus ehrte unsere Oberin Anne-Katrin Gerhardts Susanne Serry als Ehrenmitglied der Württembergischen Schwesternschaft – als Zeichen des Dankes und der Anerkennung für ihren unermüdlichen Einsatz im Dienst der Menschlichkeit. Im Interview spricht Susanne Serry über ihre Motivation, prägende Einsätze, die Herausforderungen der Pflege in Krisengebieten und darüber, wie sie ihren Weg gefunden und lieben gelernt hat.

 

Oberin Anne-Katrin Gerhardts mit Susanne Serry
Oberin Anne-Katrin Gerhardts mit Susanne Serry

Frau Serry, Sie engagieren sich seit über zwei Jahrzehnten als Pflegefachperson für das Internationale Komitee vom Roten Kreuz. Wenn Sie auf diese Zeit zurückblicken: Was hat Sie damals motiviert, diesen Weg einzuschlagen?

Schon sehr früh war da dieses Gefühl, dass ich ins Ausland möchte. Anfang 2000 hatte ich in Deutschland beruflich alles erreicht, was ich mir vorgenommen hatte. Trotzdem wusste ich: Das kann noch nicht alles gewesen sein. Also bin ich zunächst nach England gegangen, um mein Englisch zu verbessern und neue Erfahrungen zu sammeln.

Über das Rote Kreuz wurde ich zu einem Kurs im Bereich Disaster Nursing eingeladen. Dieser Kurs hat mich sofort begeistert – ich wusste, das ist genau mein Bereich. Danach habe ich allerdings erst einmal mehrere Jahre nichts gehört. Und dann kam 2004 der Tsunami in Südostasien und ich ging 2005 auf meinen ersten Einsatz in Sri Lanka. Über das ICRC erhielt ich die Anfrage für meinen ersten Einsatz. Ich weiß noch genau, wie ich die Nachricht auf meinem Anrufbeantworter abgehört habe. In meinem Kopf kreisten tausend Gedanken: Kann ich das psychisch und körperlich leisten? Habe ich genug Erfahrung?

Trotz dieser anfänglichen Zweifel habe ich zugesagt und flog nach Sri Lanka. Vor Ort habe ich gleich gemerkt: Hier bin ich richtig. Ich habe meinen Weg gefunden und meine Berufung. Anfangs waren es Kurzeinsätze, seit 2012 bis Juni 2025 arbeitete ich durchgehend in Festanstellung für das ICRC und ging von Einsatz zu Einsatz. Seit Juni 2025 bin ich offiziell beim ICRC berentet, war aber dann bis Ende August 2025 noch einmal im Gazastreifen. Nun habe ich die Möglichkeit, in Kurzeinsätzen weiterzuarbeiten.

Susanne Serry hält ein Kind im Arm bei einem Einsatz im Gaza Streifen 2023
Susanne Serry im Einsatz im Gazastreifen 2023

Sie sind in Krisen- und Konfliktregionen im Einsatz. In welchen Gebieten waren Sie häufig unterwegs?

Ich war tatsächlich in sehr vielen Ländern und Regionen im Einsatz. Angefangen hat wie bereits gesagt alles in Sri Lanka und auf den Malediven nach dem Tsunami. Es folgten Einsätze auf den Philippinen, in Nordkorea, in vielen afrikanischen Ländern, in Afghanistan, im Südsudan, in Haiti nach dem Erdbeben 2010 sowie im Nahen und Mittleren Osten. Ich war drei Jahre in Kairo als Regional Operating Theatre Nurse stationiert. Dann wurden wir nach Amman verlegt, wo ich noch einmal fast drei Jahre als Regional- und dann Global OT Nurse stationiert war. In den letzten Jahren war ich zudem mehrfach im Gazastreifen im Einsatz – zuletzt als Head Nurse in einem Feldlazarett.
Was mich dabei immer begleitet hat, ist die innere Motivation, Menschen zu helfen. Wenn man die Lebensrealitäten in vielen Einsatzländern erlebt hat, merkt man sehr deutlich, wie privilegiert wir hier in Deutschland leben.

Sie arbeiten oft unter extremen Bedingungen, zuletzt auch im Gazastreifen. Wie erleben Sie die Veränderungen dort?

Gerade in Gaza habe ich in den letzten Jahren sehr starke Veränderungen beobachtet. Zu Beginn waren es vor allem Verletzungen durch Bombardierungen. Inzwischen sehen wir überwiegend Schussverletzungen. Auch die Versorgungslage hat sich dramatisch verschlechtert. Als ich im August 2025 meinen letzten Einsatz dort hatte, gab es kaum noch Lebensmittel, kaum medizinisches Material. Inzwischen hat sich das natürlich durch die aktuelle Situation verändert.

Das Krankenhaus, in dem ich früher regelmäßig gearbeitet habe, musste evakuiert werden. Seitdem arbeiten wir in einem Feldlazarett. Besonders herausfordernd ist der Mangel an Verbrauchsmaterialien. Seit ein paar Monaten gibt es zum Beispiel keine Stomabeutel mehr. Also müssen wir improvisieren. Wir haben dann Stomabeutel aus Urinbeuteln gebastelt. In solchen Momenten wird man kreativ.

Susanne Serry als OP Schwester beim Einsatz in Nigeria
Susanne Serry als OP Schwester beim Einsatz in Nigeria

Ist es nicht sehr gefährlich, in solchen Regionen im Einsatz zu sein?

Natürlich ist das gefährlich. Und dessen bin ich mir bei jedem Einsatz sehr bewusst. Ich weiß, wo ich hingehe, und ich überlege mir diese Entscheidung immer sehr genau. Es gibt keine Garantie, dass man zurückkommt.

Aber ich wollte genau das immer machen. Ich bin dankbar, dass ich das tun kann, was ich mir gewünscht habe. Diese Erfüllung überwiegt für mich die Gefahr. Ich habe diesen Weg nie bereut – im Gegenteil.

Gab es Momente, die Sie besonders berührt oder nachhaltig geprägt haben?

Davon gibt es viele, aber zwei sind mir besonders im Gedächtnis geblieben.

Der erste Moment war im Norden Nigerias. Ein Mann kam mit einer schweren Messerstichverletzung zu uns und musste dringend operiert werden. Er sagte, er könne nicht operiert werden, weil er kein Geld besitze und sich die Behandlung nicht leisten könne. Ich habe ihm erklärt, dass er nichts bezahlen müsse. In diesem Moment begann er zu weinen und sich immer wieder zu bedanken. Das war unglaublich bewegend.

Der zweite Moment war im Feldlazarett in Port-au-Prince in Haiti nach dem Erdbeben. Alles war zerstört, wir arbeiteten in einer großen Halle, etwa so groß wie ein Fußballfeld. Jeden Sonntag gab es dort Musik. Obwohl es wegen der Nachbeben eigentlich zu gefährlich war, kamen unzählige Menschen in kleinen Gruppen. Schließlich war die Halle brechend voll.

Ein Priester und eine Band standen auf einer kleinen Bühne. Wir verstanden kein Wort, weil sie Kreolisch sprachen. Dann bemerkte der Priester uns am Rand, fragte auf Englisch, woher wir kommen, und bedankte sich bei uns. Anschließend wechselte er wieder ins Kreolische. Plötzlich ging die gesamte Halle auf die Knie, und er sagte sinngemäß: „Vielen Dank, dass ihr kommt und uns helft.“

Das war einfach überwältigend. Ich denke bis heute oft daran. Man fühlt sich dabei nicht heldenhaft – für mich ist das, was ich tue, selbstverständlich. Aber solche Augenblicke zeigen, wie viel Menschlichkeit und Dankbarkeit selbst in größter Not existieren.

Susanne Serry in Feldkirchen beim Funken
Susanne Serry in Feldkirchen beim Funken

Sie haben in unterschiedlichen Kulturen und Gesundheitssystemen gearbeitet. Was haben Sie dabei über Pflege gelernt und was über Menschlichkeit?

Pflege ist überall auf der Welt gleich wichtig, aber die Bedingungen könnten unterschiedlicher kaum sein. Ich habe gelernt, wie wertvoll einfache Dinge sind und wie viel man auch mit sehr begrenzten Mitteln erreichen kann.
Vor allem aber habe ich gelernt, wie stark Menschen sein können. Trotz Krieg, Verlust und Unsicherheit gibt es Hoffnung, Zusammenhalt und Mitmenschlichkeit. Das verändert den eigenen Blick auf das Leben nachhaltig. Man beginnt, das, was man hat, sehr zu schätzen.

Woher nehmen Sie die Kraft, sich immer wieder auf neue, oft sehr belastende Einsätze einzulassen?

Schon nach dem ersten Kurs zum Thema Pflege im Krisen- und Katastrophenschutz wusste ich: Das will ich machen. Natürlich gibt es auch Schattenseiten. Dieses Leben muss man wirklich wollen. Es ist schwierig, einen festen Freundeskreis aufzubauen, wenn man ständig von Einsatz zu Einsatz geht.

Aber an den Einsatzorten hilft jeder jedem. Man fühlt sich sofort aufgehoben und Teil eines Teams. Und das, was man zurückbekommt – an Sinn, Dankbarkeit und Menschlichkeit – gibt mir unglaublich viel Kraft.

Was raten Sie jungen Pflegefachpersonen, die über einen Auslandseinsatz nachdenken?

Ich würde immer empfehlen, mit Kurzeinsätzen zu beginnen. So kann man für sich selbst herausfinden, ob dieser Weg wirklich passt. Die Arbeit ist hart. Man schläft manchmal auf dem Boden, zählt Kakerlaken, ist weit weg von Familie und Freunden und verliert unter Umständen auch soziale Kontakte, weil man ständig unterwegs ist.

Man muss sich ehrlich fragen: Ist das das Leben, das ich führen möchte? Für mich war und ist es genau richtig. Ich bereue keinen einzigen Schritt. Und trotz aller Herausforderungen gibt einem dieser Beruf unendlich viel zurück. Darauf möchte ich nicht verzichten.

 

Das Interview führte Jana Bulling